Helmpflichtdebatten erhöhen nicht die Verkehrssicherheit!

Immer wieder geistern durch Zeitungen und Zeitschriften, Internetforen und soziale Medien Diskussionen über eine Helmpflicht für Radfahrer*innen. Problematisch an diesen Diskussionen ist, dass sie von den wirklich wichtigen Fragen der Verkehrssicherheit ablenken: Wie schaffen wir es in Deutschland, für alle Verkehrsteilnehmer möglichst sichere Bedingungen zu schaffen? Wie sieht eine zukunftsfähige, klimaverträgliche Infrastruktur im Verkehrsbereich aus? Wie kommen Kinder eigenständig und sicher mit dem Rad zur Schule oder zu ihren Freunden? Helmpflichtdiskussionen helfen da überhaupt nicht weiter.

Wir haben uns deshalb entschlossen, der WAZ eine Stellungnahme im Namen von urbanRadeling zukommen zu lassen, die wir euch nicht vorenthalten wollen. Lediglich den ersten, einleitenden Absatz lassen wir hier aus und ergänzen den Text um ein paar Abbildungen.

Es stimmt, dass die Zahl getöteter Rad Fahrenden in Deutschland zugenommen hat. Um genauer zu sein: Im ersten Halbjahr 2019 um 16% im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Das liegt besonders daran, dass ein zunehmender Radverkehr einhergeht mit einer völlig unzureichenden Infrastruktur. So sieht das auch die Sprecherin des Deutschen Verkehrssicherheitsrats (DVR): „Radfahrer haben vor allem in Städten häufig zu wenig geschützten Raum und werden deshalb dort besonders oft durch Kollisionen mit Pkw und Lkw getötet“. Damit Radfahrer sicher ankommen, müssten laut DVR mehr und vor allem sichere Radverkehrsanlagen gebaut werden.

Genau das ist der entscheidende Punkt, um die Verkehrssicherheit zu erhöhen. Und hier wäre viel zu tun. Ein Unding sind zum Beispiel die gerade in Bochum sehr verbreiteten, für Fahrräder freigegebenen Gehwege (bei fehlenden Radwegen), gemeinsame Geh- und Radwege oder Hochbord-Radwege, die fast an jeder Kreuzung gefährliche Situationen erzeugen. Diese führen nicht nur zu Konflikten zwischen gehenden und Rad fahrenden Menschen, sondern bergen auch erhebliche Unfallrisiken, u.a. durch abbiegende KFZ.

Eine bessere Infrastruktur dagegen würde dazu führen, dass mehr Menschen das Fahrrad als Fortbewegungmittel im Alltag wählen. Das erzeugt wiederum eine Schutzwirkung: Denn dann rechnen KFZ-Fahrer*innen viel eher mit Fahrrädern im Straßenverkehr und „übersehen“ diese seltener, z.B. beim Abbiegen. Wer selbst viel Rad fährt und zu Fuß geht, verhält sich im PKW außerdem rücksichtsvoller gegenüber Anderen im Straßenverkehr.

Wie wichtig diese beiden Faktoren für die Verkehrssicherheit sind, zeigt sich am Beispiel der Niederlande. Hier gibt es, gemessen an den zurückgelegten Strecken (Millionen Kilometer), die wenigsten getöteten und schwer verletzten Radfahrer*innen weltweit. Das ist zurückzuführen auf die vorbildliche Infrastruktur und die Allgegenwart des Radverkehrs in allen Bevölkerungsschichten und -teilen. Obwohl dort so gut wie niemand mit Helm fährt; nicht einmal Kinder. Was uns zum zweiten Thema führt.

Kinder in den Niederlanden auf dem Schulweg…

Ja, Helme können (richtig aufgesetzt!!!) bei manchen Unfällen die Folgen mildern und im Einzelfall auch Leben retten. Der Verfasser dieses Texts fährt in Bochum selbst mit Helm. Richtig ist aber auch, dass ein Fahrradhelm keinen einzigen Unfall verhindert. Ob das Tragen eines Helms bei manchen Rad Fahrenden einen riskanteren Fahrstil fördert und ob Auto Fahrende z.B. beim Überholen „behelmter“ Radler*innen weniger vorsichtig fahren als beim Überholen „unbehelmter“, ist noch nicht ausreichend untersucht. Helme schützen außerdem nicht bei hohen Aufprallgeschwindigkeiten. Sie schützen auch nicht, wenn man von einem rechts abbiegenden LKW überrollt wird – eine Unfallart, die stark zugenommen hat. Ziel der Politik und der Verkehrsplanung sollte es in jedem Fall sein, Unfälle durch bauliche Maßnahmen so weit wie möglich zu verhindern.

Alltag in deutschen Großstädten… (Foto: Adobe Stock)

Ein großes Ärgernis für viele Fahrrad Fahrende sind Unfallberichte, in denen es heißt, das Unfallopfer habe kein Helm getragen, ohne dass deutlich wird, inwieweit dies eine Rolle für die Unfallfolgen gespielt hätte. Unfallmeldungen, in dem von einem tödlichen Unfall trotz Tragen eines Helms berichtet wurde, gibt es dagegen nicht. Durch das ständige Betonen eines fehlenden Helms entsteht außerdem leicht der Eindruck, die Fahrrad Fahrenden seien selbst schuld an den Unfällen, sie hätten sich ja durch einen Helm schützen können – victim blaming nennt man so etwas, also das verantwortlich machen des Opfers für den erlittenen Schaden.

Eine ganz andere Sache als das Tragen eines Fahrradhelms zu bewerben, ist die Forderung nach einer Helmpflicht. Eine Helmpflicht, die auch kontrolliert wird, führt nachweislich zu einer Abnahme des Radverkehrs. Zwar sinkt die Zahl schwer verletzter und getöteter Rad Fahrender kurzfristig – aber das individuelle Unfallrisiko für die verbleibenden Fahrer steigt – und zwar infolge des sinkenden Radverkehrsanteils. So geschehen in Australien, wo ab 1990 eine Helmpflicht eingeführt wurde. Und weniger Radverkehr kann wirklich niemand wollen, weder im Hinblick auf die Verkehrssicherheit, noch im Hinblick auf das Klima und die Luftqualität. Eine Helmpflicht ergäbe auch praktische Probleme: Wie sieht es zum Beispiel mit Leihrädern aus? Gibt es dann Leih-Helme in verschiedenen Größen dazu?

Noch einmal: Es spricht nichts dagegen, wenn z.B. die Polizei Werbung für Fahrradhelme macht – allerdings spielt die Infrastruktur eine viel größere Rolle für die Verkehrssicherheit. Auch nicht ganz unwichtig: Bei 80% der Unfälle, an denen Rad Fahrende beteiligt sind, sind die Hauptverursacher Fahrer*innen von PKW oder LKW (langjähriger Mittelwert).

Sicherlich schadet es nicht, bei Schwerpunktaktionen der Polizei Rad Fahrende auf Verkehrsregeln hinzuweisen, wenn sie diese nicht einhalten. Diese würden es jedoch begrüßen, wenn auch z.B. das Parken auf Radwegen, zu schnelles Fahren mit dem Auto, illegale Autorennen, Rotlichtverstöße, das Nehmen der Vorfahrt z.B. in Kreisverkehren oder das Überholen von Rädern mit zu geringem Abstand stärker in den Blick genommen würde – alles Dinge, die immer wieder zu schweren Unfällen mit Todesfolge führen.

„Ghost Bike“ in Bochum-Wattenscheid

Die Gefahren auf der Straße halten nicht nur viele Menschen vom Radfahren ab, sondern unsichere Personen fahren dann mit dem Rad verbotenerweise auf Gehwegen. Auch gibt es rücksichtslose Menschen, die aus Bequemlichkeit oder Gedankenlosigkeit Personen auf dem Bürgersteig verängstigen oder gar gefährden. Trotzdem geht von diesen ein ungleich geringeres Unfallpotential aus als vom KFZ-Verkehr. Deshalb kann man sich nur wünschen, dass viele Autofahrer*innen aufs Rad umsteigen; denn das würde hunderte Verkehrstote jedes Jahr weniger bedeuten. Eine beeindruckende Zahl dazu: Im ersten Halbjahr 2019 wurden 173 zu Fuß gehende Menschen und 158 Fahrrad Fahrende im deutschen Straßenverkehr getötet. Bis heute gab es dagegen genau einen Todesfall einer Fußgängerin, den ein Radfahrer zu verantworten hatte – und das in Gesamtdeutschland seit dem zweiten Weltkrieg.

Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Wir plädieren sehr für die gegenseitige Rücksichtnahme aller VerkehrsteilnehmerInnen, ganz besonders für Rücksicht gegenüber den jeweils „schwächeren“ Beteiligten, also besonders gegenüber Fußgänger*innen, deren Interessen und Bedürfnisse in der Verkehrsplanung oft noch weniger Beachtung finden als die der Rad Fahrenden.

Was das Radfahren als auch das Zufußgehen wirklich gefährlich macht, ist der stark gestiegene PKW- und LKW-Verkehr bei gleichzeitig unzureichender Infrastruktur für den Radverkehr. Entgegen der Entwicklung in anderen Großstädten steigt die Zahl der zugelassenen PKW in Bochum weiter jedes Jahr stark an: von Juli 2016 bis Juli 2019 um ca. 22.000. Auch das hat spürbare Folgen für die Verkehrssicherheit.

Ganz normaler Alltagsverkehr in den Niederlanden – ohne Helme und trotzdem sicher

Unser Fazit: Wer mehr Verkehrssicherheit will, muss die Bedingungen für den Rad- und auch den Fußverkehr verbessern, den ÖPNV stärken und den motorisierten Individualverkehr (MIV) eindämmen. Hier gibt es einen großen Werkzeugkasten an möglichen Maßnahmen: Die sichere Gestaltung von Kreuzungen und Kreisverkehren, baulich getrennte Fuß- und Radwege, geschützte Radwege (protected bikelanes), verbesserte Ampelschaltungen, eine Ausweitung autofreier Zonen, Geschwindigkeitsbeschränkungen und auch eine Neuverteilung des Verkehrsraums mit mehr Platz für den Rad- und Fußverkehr. Und jetzt auch für E-Scooter. Das sorgt nicht nur für mehr Sicherheit für alle Verkehrsteilnehmer, sondern auch für mehr Lebensqualität, mehr Ruhe, bessere Luft und ein besseres Klima.

Facebooktwittermailby feather